Schlusschor (Botho Strauß)

Schlusschor (Botho Strauß)

Das Stück besteht aus drei nahezu vollständig voneinander losgelösten Akten, die jeweils eine Gruppe von Menschen portraitieren. Im ersten Akt mit dem Titel Sehen und gesehen werden sind es 15 Männer und Frauen, die für ein Gruppenfoto posieren. Während der Fotograf die richtige Einstellung sucht, unterhalten sich die in vier Reihen aufgestellten Personen durcheinander. Es sind zusammenhanglose, einzelne Gesprächsfetzen, die von jedem beliebigen Betriebsausflug stammen könnten.

Anne Schmidt-Krayer in Schlußchor, Botho Strauß Karlsruhe 1991

Der Fototermin zieht sich in die Länge (Fotograf: „Ich fotografiere euch so lange, bis ihr ein Gesicht seid. Ein Kopf – ein Mund – ein Blick. Ein Antlitz!“), die Gruppe wird ungeduldig und fängt an, absurde Drohungen gegen den Fotografen auszustoßen. Nach einer „Kanonade kurzer lauter Befehle“ wird es dunkel. „Wenn es wieder hell wird“, so die Regieanweisung, „liegen vom Fotografen nur noch ein Bündel Kleider und die Schuhe auf dem Boden“. – Der zweite Akt trägt den Titel Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens). Lorenz ist Architekt und irrt sich in der Wohnung seiner Auftraggeberin Delia in der Tür. Dabei überrascht er die nackte Delia im Bad – ein banaler Zwischenfall mit tragischem Ausgang. Im anschließenden Gespräch – eigentlich über den Ausbau ihres Dachgeschosses – kommt die Sprache in zunehmend manierierter werdendem, mythisch überhöhtem Ton immer wieder auf die versehentliche Begegnung im Bad zurück.

Während Lorenz Delias unverhüllte Schönheit mit Kunstwerken vergleicht, gemahnt sie ihn an das Schicksal von Actaeon, den die Jagdgöttin Diana, nachdem er sie im Bad erblickt hatte, in einen Hirsch verwandelte und der sodann von seinen eigenen Hunden zerfleischt wurde. Die zweite Szene spielt in der Garderobe einer Villa, die nach und nach von den Gästen einer Party – mal einzeln, mal paarweise – aufgesucht wird: von der „Frau in Schilfgrün“, der „Unbedachten“, dem „Bitteren Mann“. Bruchstücke der Party-Konversation sind zu hören. Unter den Gästen befindet sich auch Lorenz, der Architekt, der immer wieder vor den großen Garderobenspiegel tritt, um sich Mut zu machen für seine Begegnung mit Delia.

Als er, nach einem offenbar mißlungenen Auftritt, gerade gehen will, erscheint Delia im Spiegel, „nackt wie zu Beginn, in derselben Pose“. Da erschießt sich Lorenz. – Der dritte Akt, Von nun an, spielt in einem Restaurant. Zwischen der Konversation der Gäste verkündet „Der Rufer“, der schon im 2. Akt immer wieder mit einem gebrüllten „Deutschland“ auf sich aufmerksam machte, den Fall der Mauer. Ein Paar von drüben taucht auf, und die Adlige Anita von Schastorf hängt ihren monarchistischen Träumen nach. Das Stück endet damit, daß Anita einen Steinadler aus dem Zoo befreit, um ihn anschließend zu töten.

Drei Menschengruppen, gleichsam drei Chöre, die aber nicht im Einklang singen, sondern, aufgelöst in mehr oder weniger gesichtslose Figuren, Banalitäten von sich geben, dazwischen zwei Tote und – fulminanter Abschluß – das abgeschlachtete Wappentier der Bundesrepublik – doch alles scheint gleichermaßen bedeutend oder unbedeutend, die kleinen privaten Geschichten ebenso wie die mitunter heraufbeschworenen Mythen und – der historische Augenblick des Mauerfalls.

Benjamin Henrichs hat das Stück „die Mikroskopierung des Mikrodramas“ genannt: „die kürzesten und schnellsten Stücke der Welt: jeder Satz ein Drama für sich.“ Zugleich sieht er darin „so etwas wie die Schlußversammlung aller bisher bekannten Botho-Strauß-Gesichter und – Gefühle. Ein Scherbenhaufen, ein Wühltisch, eine Krabbelkiste der schönsten Sätze und Effekte. Kein „Museum der Leidenschaften“, sondern ein Bazar der Bagatellen.“.