Joseph Suess (Glanert)

Joseph Suess

Süß-Oppenheimer, Joseph, eigtl. Joseph Süß Oppenheimer, gen. Jud Süß, * Heidelberg 1692 oder 1698 (1699?), + Stuttgart 4. 2. 1738, jüd. Finanzmann. Geheimer Finanzrat (1736) Hzg. Karl Alexanders von Württemberg; nach dessen Tod (1737) wegen Verfassungsbruchs und persönl. Bereicherung im Amt hingerichtet.
1827,
Hauff: „Phantasien im Bremer Ratskeller“, „Jud Süß“
1925,
Lion Feuchtwanger (* 1884, + 1954): „Jud Süß“ (Roman, 1917 als Drama)

Adam Kruzel, Ursula Hennig, Florian Lange, Stefan Sevenich, Opernchor Regensburg

Adam Kruzel, Ursula Hennig, Florian Lange, Stefan Sevenich, Opernchor Regensburg

An den Galgen
Das Armsünderglöckchen läutet morgens um acht Uhr auf dem Herrenhaus den Todestag ein: Dienstag, 4. Februar 1738. Ganz Stuttgart befindet sich auf den Beinen, ein großer Tag, für viele der aufregendste ihres Lebens. Am Abend vorher wird mit Beginn der Dämmerung und nach Trommelschlag in den Straßen ausgerufen, wie man sich am nächsten Tag zu verhalten habe. Kein Haus dürfe leer- und offenstehen, in jedem müsse eine Person zurückbleiben, die nach Feuer und Licht zu schauen und auf Einbrecher und Diebe zu achten habe. Alle Kaufläden seien geschlossen zu halten, auf dem Marktplatz keine Stände erlaubt. Die Gastwirte sollen alle Fremden anzeigen, die bei ihnen übernachten. «Verdächtiges oder liederliches Gesindel» dürfe nicht aufgenommen werden. An jedem Stadttor werde ein Schreiber die Namen der Hereinkommenden notieren. Alle fremden Juden seien aus der Stadt auszuweisen, die Stuttgarter Juden dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen. Das Hofpersonal muß den ganzen Tag im Schloss bleiben. In den Gassen patrouillieren Tag und Nacht vermehrt Bürgerwachen, zusammen 100 Mann.
Eine Stadt im Ausnahmezustand. 1200 Milizsoldaten halten den Marktplatz besetzt, weitere 600 haben schon frühmorgens draußen vor der Stadt einen Kreis um die Hinrichtungsstätte gezogen, noch einmal 600 liegen als Reserve in den Kasernen. 18 Stadtreiter haben während der Exekution auf der Galgensteige zu patrouillieren, um Unruhe zu verhindern. Das Militär ist bürgerlich: Miliz und Stuttgarter Stadtreiter. Das Misstrauen gegen das herzogliche Militär gehört zur konservativen Revolte.
In der allgemeinen Aufgeregtheit können keine Hochzeiten abgehalten werden. Deshalb hat die evangelische Kirchenbehörde den Brautpaaren erlaubt, die beliebten Dienstagshochzeiten ausnahmsweise auf Montag vorzuverlegen. Am Montag durfte sonst nicht geheiratet werden, die Hochzeitsvorbereitungen hätten die Sonntagsheiligung verletzt. Das Kriminalgericht trifft sich morgens zwischen 7 und 8 Uhr in der Wohnung des Vorsitzenden, des Oberhofrichters von Gaisburg. Alle Richter tragen Schwarz, nur das Opfer Scharlachrot. In drei Kutschen fahren sie vor das Herrenhaus. Begleitet von Stuttgarter Patriziern, betreten sie den großen Saal im ersten Stock. Hier stehen drei Tische in Hufeisenform, mit roten Decken überzogen. Das Gericht nimmt an der Stirnseite Platz, an einem größeren Tisch, der an der Fensterfront zur Münze hinüber steht und mit Schranken umgeben ist. Heute bleiben die Türen des Gerichtssaales offen, das erste und einzige Mal in diesem Geheimprozeß. Das Todesurteil muß nach der «Peinlichen Halsgerichtsordnung» bei offenen Türen verkündet werden, auch wenn die auf dem Marktplatz wartende Menge davon nichts hören kann.
Ein vierzigköpfiges Milizkommando führt gegen 9 Uhr den Verurteilten ohne Fesseln in den großen Saal hinauf. Süß hat sich rechtzeitig, solange er noch keine Fesseln trägt, die Zehn Gebote an die Stirn gebunden. Die ganze Nacht hat er so gut wie nicht geschlafen, dennoch ist er überwach. Die Urteilsverkündigung stellte der Augsburger Elias Baeck in einem Stich dar, vermutlich teilweise nach der Natur gezeichnet, wie einige seiner Blätter über Süß‘ Ende. Auch er bezeugt keine Öffentlichkeit. Neben 13 Richtern beherrschen 15 Wachsoldaten den Saal. Hinter Süß stehen der Scharf- richter, die Henkersknechte und wenige Privatleute.
Süß ist bereit, noch einmal um sein Leben zu kämpfen. Gleich nach dem Betreten des Saales fällt er auf die Knie und bittet um Gnade. Der Gerichts- präsident läßt ihn nicht zu Wort kommen, befiehlt ihm Schweigen und fasst das Kriminalverfahren zusammen. Beim Stichwort «Landesverderber» protestiert Süß laut. Der Scharfrichter Jacob Christoph Neher will ihm den Mund zuhalten. Süß gibt ihm eine Ohrfeige und schreit: «Lass mich gehen, ich wehre mich meines Lebens.» Während Süß ständig dazwischenruft, verliest der Sekretär Gabler das Todesurteil: «Gleichwie Serenissismus sich in Dero Gewissen verbunden erachten, der von Gott Ihnen anvertrauten Justiz ein Genüge zu tun und sowohl vor den Augen der Auswärtigen als dieses ganzen Herzogtums und Landes darzulegen, mit welch gerechtem Eifer höchst Dieselbe die an Herren und Leuten verübte verdammliche Misshandlungen an des Juden Joseph Süß Oppenheimers Person abzustrafen, als ist höchst Deroselben ernstlich und unabänderlicher Will und Meinung, daß peinlich beklagter Inquisit [Angeklagter] Jud Joseph Süß Oppenheimer ihm zur wohlverdienten Straf, jedermänniglich aber zum abscheulichen Exemplar an den obern eisernen Galgen mit dem Strang vom Leben zum Tod gebracht werden soll. Decretum [beschlossen] Stuttgart, den 25. Januarii 1738. Carl Rudolph.»

Adam Kruzel und Katrin Mann, Regensburg 2000

Das Urteil nennt keine Straftaten und verweigert eine Begründung. Die «verdammlichen Misshandlungen» bleiben so allgemein, wie sie im ganzen Prozeß verhandelt wurden. Die Justiz steht so wenig über dem Verfahren, daß sie bei aller Verschlungenheit der Sätze eigenartig stumm bleibt. Merkwürdig sieht die Rücksicht auf die «Augen der Auswärtigen» aus. Ein nebulöser Versuch, die Verantwortung aus Württemberg hinauszuverlagern. Ganz und gar unglaubwürdig, weil dem Verurteilten nie irgendeine Tat außerhalb Württembergs vorgeworfen wurde, auch von anderen Staaten nicht. Das Urteil läuft auf eine faustdicke Lüge hinaus. Wenn man es abklopft, klingt alles hohl, eine schwache Leistung nach einem elf Monate dauernden Verfahren, das weit über 100 Aktenbände mit Verhören, Protokollen und Dokumenten produzierte.
Der Vorsitzende zerbricht ein dünnes, weißes Stäbchen in drei Teile und wirft sie dem Verurteilten vor die Füße. Mit dieser Symbolhandlung ist das Todesurteil rechtskräftig. Süß erklärt sich für unschuldig, ruft nach Rache gegen seine Richter und verflucht sie. Der Scharfrichter, direkt hinter Süß stehend, wird gefragt, ob er das Urteil verstanden habe. Er bejaht, bekommt den Befehl zum Vollzug und fesselt Süß kreuzweise. Miliz führt den Gefangenen in die Todeszelle zurück, zur Henkersmahlzeit. Der Vogteiknecht und seine Frau haben das letzte Essen bereitgestellt, durch ein Gelübde sind sie verpflichtet, dem Juden nichts «Schädliches zu reichen». Ein letztes Mal wird auf koschere Speisen geachtet. Süß rührt nichts an, er trinkt auch nichts. Die Geistlichen Heller und Hoffmann versuchen ein weiteres Mal, Süß dem Judentum abspenstig zu machen, inzwischen der siebte Bekehrungsversuch. Süß schreit ihnen ununterbrochen entgegen: «Schma Jisrael, Adonai Elohenu, Adonai Echad.» Das Kriminalgericht fährt inzwischen zur Richtstätte voraus und setzt sich auf eine eigene Tribüne, um während der Exekution für Entscheidungen bei der Hand zu sein. Für die Honoratioren stehen drei weitere Tribünen daneben, von 32 Zimmerleuten in zweieinhalb Tagen aufgebaut. Gegen 9.30 Uhr wird Süß aus dem Herrenhaus auf den Marktplatz hinuntergeführt und dem Stadtvogt Groß übergeben. Er sträubt sich, der Scharfrichter zerrt ihn auf den Todeskarren, einen einachsigen Wagen mit einem alten Klepper, zwingt ihn auf einen erhöhten Holzsitz aus ungehobelten Brettern und bindet ihm die hinter dem Rücken gefesselten Hände an einem Fuß und am Wagen fest. Ein Henkersjunge setzt sich auf das Pferd.
Der Zug nimmt den Weg zurück, den Süß vom Hohenasperg herunter nach Stuttgart gekommen ist: Schulgasse, Großer Graben, Siechentor. 120 Grenadiere eines einquartierten württembergischen Kreisinfanterieregiments begleiten den Karren mit aufgesteckten Bajonetten, bereit zum Nahkampf gegen einen imaginären Feind. Den Weg säumen Hunderte von Stadtreitern. Süß betet unablässig und laut sein Glaubensbekenntnis. Neben dem Karren gehen zwei Henkersknechte, mit Weinkrug und Becher in der Hand. Nach dem Passieren des Siechentors fragen sie Süß beim Siechenhaus, ob er trinken wolle. Der Todgeweihte beweist seine Überlegenheit gegenüber dieser Verspottung, die wie eine Parodie auf den Gang Jesu nach Golgatha aussieht, indem er antwortet: «Ihr spottet meiner nur. Fahret fort!»
Über die Wiesen zum Galgenberg hinauf kommt der Zug an Süß‘ Verteidiger vorbei, der sich aus Feigheit vor den Blicken des Opfers hinter einem Zaun versteckt hält. Wenigstens stimmt die Kasse: Mögling hat für seine Verteidigungsschrift samt Spesen 1000 Gulden eingestrichen. Damit kann man in Stuttgart fast ein Haus kaufen. Der Henker dagegen erhält für das Aufhängen nur 30 Kreuzer. Die Blutarbeit wird kümmerlich bezahlt.
Gegen 10.15 Uhr erreicht der Zug den Galgenberg. Endlich herrscht wieder schönes Wetter, nach einigen Tagen Regen kommt wieder die Sonne durch. Der Wagen hält an, der Gefesselte wird in den Kreis geführt, der von der Miliz gebildet wird. Der zehn Meter hohe Galgen ist schon am Freitag aufgebaut worden, auf einem schweren Fundament aus Quadersteinen, der Sockel zweieinhalb Meter breit und eineinhalb Meter hoch. Die Fugen hat man mit Eisen ausgegossen und den ganzen Unterbau leuchtendrot angestrichen. Das Ganze wiegt 25 Zentner. Die Leiter weist 49 Sprossen auf, so sagt die Rechnung der Zimmerleute: eine Doppelleiter mit drei Holmen und vier Stützen. Dahinter steht eine einfache Leiter. Der eigentliche Galgen, aus Eisen geschmiedet, ragt über den hölzernen Hauptgalgen um zwei Meter hinaus. Süß wird zwölf Meter über dem Erdboden hängen, am höchsten Galgen des Deutschen Reiches. Am obersten Galgen ist ein eiserner Käfig von dreieinhalb Zentnern Gewicht festgemacht, hergestellt von der Stuttgarter Schlosserzunft. 12 Schlossermeister und 20 Gesellen haben zwischen einem und vier Tagen daran gearbeitet, die meisten zweieinhalb. Beim Zusammenfügen in der Werkstatt und beim Anbringen am Galgen haben 23 Meister, 25 Gesellen und fünf Lehrjungen mitgewirkt, anderthalb Tage lang. Weil alle bei dieser verfluchten Arbeit mit Hand anlegen müssen, kann nachher niemand für unehrlich erklärt und aus der Zunft ausgestoßen werden, wie man es nach der Zunftmoral tun müsste. Der Käfig ist in einem weithin leuchtenden Rot angestrichen.
Im Kreis der Miliz* befinden sich bereits der Stadtvogt Groß, der die Hinrichtung zu leiten hat, und als Zeugen des Todes die Stuttgarter Bürgermeister Johann Daniel Hoffmann und Ernst Friedrich Schweizer, umgeben von 18 Stadtreitern. Ebenfalls im Kreis stehen die Geistlichen Heller und Hoffmann, um Süß zum Christentum herüberzuziehen. Der achte Versuch. Sie beten ihm laut das Vaterunser vor. Süß hält sich die Ohren zu und brüllt ihnen das «Schma Jisrael, Adonai Elohenu, Adonai Echad» ins Gesicht. Auf der Tribüne des Kriminalgerichts wartet ein katholischer Geistlicher, falls Süß sich dieser Konfession anschließen möchte. In einem nahen Weinberghäuschen stehen die katholischen Kultusgegenstände bereit. Ein Rabbiner wird bis zum Schluß verweigert. Der Stadtvogt, der es am besten sehen und hören kann, bezeugt in seinem Exekutionsbericht: Süß habe «bis in sein ohnglückliches Ende hebräisch geredet und die 10 Gebot, woran er sich doch in seinem Leben wenig gekehret, mit einem schwarzen Schnupptuch an die Stirn geknüpfet». Die Hinrichtung gaben nach eigener Anschauung die Augsburger Künstler Elias Baeck, Lucas Conrad Pfandzelt und Jakob Gottfried Thelot in Kupferstichen wieder. Süß macht keine Bewegung freiwillig, zu allem muß er gezwungen werden. Bis zum Schluß gibt er seinen Willen nicht auf, wirft sein Leben nicht weg. Es ist 10.30 Uhr, als ihm unten an der Leiter die Schuhe ausgezogen, das Halstuch abge- nommen und der Strick um den Hals gelegt werden. Vier Henkers- knechte ziehen und schieben ihn die Leiter hinauf, dem Käfig entgegen: ein ständiger Kampf der vier kräftigen Männer gegen die skelettähnliche Gestalt.
Als das Menschenknäuel die Mitte der Leiter erreicht hat, flattern Süß‘ Hut und Perücke zu Boden. Während des ganzen Ringens ruft Süß sein «Schma Jisrael» hinaus. Schon beim ersten Mal läßt der kommandierende Major die Trommeln rühren. Der über Süß‘ Hartnäckigkeit zornige Vikar Hoffmann schreit hinauf: «Du verstockter Jud, weil du denn nicht anders willst, so fahre hin. Jesus, den du verleugnet hast, wird nun bald dein Richter sein.» Kurz bevor Süß erdrosselt wird, krönt der Vikar seinen Eifer: «Du wirst in wenigen Augenblicken sehen, in welchen du gestochen hast. Jesus lebt!» Der letzte Satz stellt noch heute den Schlachtruf des Pietismus dar.
Als die Henkersknechte mit Süß oben beim Käfig angekommen sind, zieht Georg Franck, ein 20 Jahre alter Sohn des Straßburger Scharfrichters, von hinten den Strick um den Hals zu. Süß wird nicht gehenkt, er wird erwürgt, von einem französischen Henker. Die Württemberger sind zu feige, einen der Ihren damit zu beauftragen. Die Henkersknechte heben die spindeldürre Leiche in den Käfig. Nachdem Süß eine Viertelstunde lang kein Lebens- zeichen von sich gegeben hat, wird der Strick abgenommen und durch eine Kette um den Hals ersetzt. Man klappt die bewegliche gekrümmte Vorder- seite des Käfigs zu und verschließt sie durch drei große Schlösser und eine dicke Kette. Die Exekution ist zu Ende. Um 12 Uhr kehrt das Gericht in die Stadt zurück, zum Mittagessen.
Die Zuschauer verhalten sich die ganze Zeit über ruhig: keine Hassausbrüche, keine Schmährufe, keine Schadenfreude. Das vom Tod gezeichnete Aussehen, der verzweifelte Kampf um das Leben, das ständige laute Beten in einer unverständlichen Sprache, die massive Militärgewalt – das alles läßt Entsetzen, Furcht und Todesahnung spüren. Aber nicht Mitgefühl rät zum Schweigen, sondern Neugier, ob der Sterbende Todeslaute von sich gibt.
Zwölftausend sehen Süß enden, es können auch mehr gewesen sein. Stuttgart hat damals knapp 20000 Einwohner. Es sind viele Auswärtige gekommen. Auffallend, daß über diese Hinrichtung keine Memoiren berichten, keine Briefe, keine seriösen Publikationen. Stuttgart besitzt noch keine literarische Kultur. Bald wälzt sich dumpfer Haß durch die Druckereien und läßt in einer Masse von Flugschriften, Flugblättern und Liedern Verleumdungen über dem Hingerichteten zusammenschlagen. Alle Autoren müssen anonym auftreten, Hetzschriften dieser Art sind, wenn sie jemand aus dem Herrscherhaus oder der Regierung beleidigen, verboten. Als ein Lied mit 82 Strophen, verfasst von dem Stuttgarter Hauslehrer Johann Georg Edler, die Herzoginwitwe mit Süß‘ Tod in Verbindung bringt, wird es beschlagnahmt und vom Scharfrichter auf dem Pranger verbrannt. Der Autor flüchtet für neun Monate aus dem Land und kommt am Ende glimpflich davon. Dem Diakon Heller verbietet die Regierung, seine Bekehrungsgespräche mit Süß zu publizieren. Durch Schweigen soll Süß‘ Hinrichtung aus der Erinnerung gelöscht werden. Am Hinrichtungstag bleibt eine Wache unter dem Galgen zurück, die Nacht hindurch patrouillieren acht Soldaten. Man befürchtet, auswärtige Juden könnten ihren Glaubenszeugen aus dem Käfig holen und auf einem jüdischen Friedhof beerdigen. In Wirklichkeit sind die Juden gelähmt, in Erwartung einer blutigen Verfolgung.
Die Furcht vor Süß und das schlechte Gewissen lassen Gespenster entstehen. Zuerst sieht man unter dem Galgen einen Mann, der bei der Annäherung eines Beobachters in die Weinberge flieht. Später laufen Anzeigen ein: Nachts seien Verdächtige unter dem Galgen gesehen worden, die Gewalt an den Käfig legten, ein Loch hineinbrachen und die Abnahme der Leiche versuchten. Von da an patrouilliert eine Bürgerwache unter dem Kadaver. Der Scharfrichter muß zur Leiche hinaufsteigen und schauen, ob oben noch der Richtige hängt. Er bestätigt es, entdeckt kein Loch, keinerlei Gewaltanwendung am Käfig, keine Spuren einer Feile. Der heftige Februarwind hatte die Kleider des Toten zerrissen, daher die Aufregung.
In seinem Schlussbericht über die Hinrichtung ist der Stadtvogt stolz darauf, daß alles so schön geklappt hat. Nach «dieser wichtigen Exekution [haben] die höchstbeleidigte Justiz und viele tausend arme gedrückte württem- bergische getreue Untertanen sehnlich geseufzt, […] auch außer denen Landesinwohnern [habe] ein ziemlicher Teil von Europa geraume Zeit her sich aufmerksam bezeugt und die Nachwelt [wird] mehrers admirieren [bewundern]». Die Württemberger glauben kurze Zeit, im europäischen Licht zu stehen, wie Helden. Dem Toten, seit langem enteignet, stellt man noch die Hinrichtungskosten in Rechnung: 539 Gulden, 34 Kreuzer, 3 Heller. Renz, Sekretär des Kirchenrats, der als Beisitzer am Todesurteil mitgewirkt hat, vereinigt die Quittungen in einem eigenen Aktenband. Nach der Exekution wird der Tod pedantisch verwaltet. So genau hatte man es früher selten genommen.
Sechs Jahre lang bleibt die Leiche im Käfig hängen, zur Einschüchterung aller Juden. 1744 läßt der junge Herzog Carl Eugen, soeben auf den Thron gekommen, das Gerippe am Fuße des Galgens verscharren. Das geheime Grab lag in der Wolframshalde; die Stelle wäre heute bei den drei Hochhäusern in der Mönchstraße zu suchen. An zwei von Süß‘ Richtern erinnern Grabplatten in der westlichen Vorhalle der Tübinger Stiftskirche: an Pflug und Dann.
Schon drei Monate vor der Hinrichtung hat der Tübinger Buchhändler Christoph Heinrich Berger eine Marktchance gewittert. Neun Tage nach der Hinrichtung wiederholt er seine Bitte an die Regierung, den Prozeß gegen Süß ganz oder in Auszügen publizieren zu dürfen. Er habe bisher aus Rücksicht Abstand davon genommen, «jetzo aber mehr als jemals das Publikum wünscht, eine authentique Nachricht von diesen weltbekannten Delictis zu haben, um dadurch die bishero ausgesprengte viele falschen Gerüchte von den wahren zu unterscheiden». Der Händler nimmt an, Regierung und Justiz hätten ein Interesse daran, die Wahrheit bekannt- zumachen. Der Geheime Rat beschließt jedoch, die Sache auf sich beruhen zu lassen. An den mageren Kenntnissen über den Hochverratsprozeß hat sich über zweihundert Jahre lang nichts geändert.