Das Leben ein Traum (Calderon de la Barca)

In den tiefen Wäldern Polens entdecken Rosaura und ihr Diener einen sonderbaren Turm. Darin hält der König seinen Sohn Sigismund gefangen, der unwissend und fern von Menschen wie ein wildes Tier heranwächst.
Die Sterne hatten Basilius einst prophezeit, daß der Sohn einmal den Vater vertreiben und das Land ins Elend stürzen werde. Doch dem König kommen Bedenken ob dieser Behandlung seines Sohnes, und er entschließt sich, ihn auf die Probe zu stellen, um die Wahrheit des Orakelspruchs zu überprüfen (1. Akt). Sigismund wird durch einen Schlaftrunk betäubt und ins Königsschloß gebracht, wo man ihn einen Tag lang wie einen Herrscher behandelt. Dort erfährt er das Geheimnis seines Lebens, sieht sich aber zugleich seinen enthemmten Begierden ausgesetzt und mißachtet oder beleidigt in seinem Jähzorn alle. Sein ungestümes Wüten wird als Beweis für die Richtigkeit des Orakelspruchs aufgefaßt. Sigismund muß in den Turm zurück.

Bild: Jens Schweighoefer, Manfred Boehm, Anne Schmidt-Krayer, Friedhelm Becker und Lutz Zeidler in meiner Karlsruher Inszenierung.

Sein Diener deutet ihm all diese Geschehnisse als Traum. War Rosaura (= die personifizierte Liebe) ein Traum? War der Königshof ein Traum? Ist das ganze Leben nur ein Traum? („Was ist Leben? Raserei! / Was ist Leben? Hohler Schaum, / Ein Gedicht, ein Schatten kaum! Wenig kann das Glück uns geben; / Denn ein Traum ist alles Leben / Und die Träume selbst ein Traum.“)
Aus dieser vermeintlichen Erkenntnis heraus beginnt Sigismund sich innerlich zu läutern und zu veredeln (2. Akt). Als er schließlich von Rebellen befreit und zum neuen Herrscher ausgerufen wird, steht er nochmals vor der gleichen Situation wie zuvor, handelt aber nun umgekehrt: Nicht mit Haß und Wut, sondern mit Liebe und Ehrfurcht will er nun „träumen“. Als sein in der Schlacht geschlagener Vater ihn um Gnade bittet, kennt Sigismund nur noch Demut und fällt vor dem alten König in die Knie. Er hat gelernt, das Rechte zu tun, und wird fortan als ein milder Herrscher regieren (3. Akt).
Calderon exemplifiziert auf der Bühne die ethische Maxime des christlich-barocken Spaniens seiner Zeit, die auf einem religiös verankerten Ehrenkodex beruht: Das Rechte tun („obrar bien“) ist der moralische Imperativ des Stücks und zugleich innerster Kern von Calderons Weltanschauung. Niemand darf über den freien Willen eines Menschen verfügen, solange dieser sich nicht selbst verwirklicht hat. Bild: Anne Schmidt-Krayer, Lutz Zeidler und Friedhelm Becker, Karlsruhe Sigismund lernt aus den Gleichsetzungen von Traum und Leben, Wachen und Träumen, Sein und Schein, aus einem fundamentalen Wirklichkeitszweifel heraus das „obrar bien“, die edle reine Sittlichkeit. Nur der freie Wille („albedrio“) kann eine solche innere Wandlung ermöglichen. Das 1631/32 entstandene Schauspiel wirkte bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein; 1814 vertonte es G. Rossini unter dem Titel Sigismondo, es diente F. Grillparzer als Vorlage für sein Drama Der Traum ein Leben (1834), und 1902 versuchte H. v. Hofmannsthal eine Fragment gebliebene Nachdichtung und benutzte es als Vorlage für Der Turm (1923/27).