Auf dem Chimborazo (Tankred Dorst)

Auf dem Chimborazo (Tankred Dorst)

An einem späten Sommernachmittag um 1970 besteigt die in der DDR enteignete und nun in der Bundesrepublik lebende Fabrikantenwitwe Dorothea Merz zusammen mit ihren beiden unverheirateten Söhnen Tilman und Heinrich einen unmittelbar an der thüringischen Grenze zur DDR gelegenen Berg, den Chimborazo. Begleitet werden sie von Dorotheas alter, von ihr immer ein wenig unterdrückter Freundin Klara sowie von Tilmans Freundin Irene. Sie wollen am Abend ein Feuer für ihre Verwandten und Bekannten „von drüben“ als Zeichen der Verbundenheit mit der Heimat anzünden. Doch dazu kommt es nicht. Auf dem Berg – Irene ist wegen ihres defekten Schuhwerks wieder zurückgegangen – entwickelt sich zwischen der Mutter und ihren Söhnen ein desillusionierendes Gespräch: Frau Merz ist mit den Jahren eine herrschsüchtige, egozentrische, in ihren bürgerlichen Illusionen und ihrer Erinnerung verhaftete alte Dame geworden, die das Scheitern ihrer Kinder nicht wahrhaben will. Tilman ist halbtags in der Informationsabteilung des TÜV angestellt; Heinrich, mit abgebrochenem Studium, arbeitet im Keller der Universitätsbibliothek als Hilfskraft. Tilman, schwächlich und unsicher, muß seine Mutter in privaten Belangen (Verlobung mit Irene) immer noch wie ein kleiner Junge um Erlaubnis fragen. Nur der zynische Versager Heinrich bringt es fertig, die Familien-Lebenslüge, die die Mutter mit ihren Ansprüchen, Hoffnungen und Projektionen bisher aufrechterhalten konnte, zu zerstören.

Hildburg Schmidt Auf dem Chimborazo, T. Dorst Frankfurt 1989